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Internationaler Frauentag 2025: Interview mit Prof. Dr. Claudine Kraft

Die Molekularbiologin und designierte CIBSS-Sprecherin spricht über ihren Schwerpunkt in der Autophagie-Forschung, die Notwendigkeit von unterstützenden Netzwerken für Frauen in der Wissenschaft sowie Chancen für Gleichberechtigung im Allgemeinen.

 

Die Molekularbiologin Prof. Dr. Claudine Kraft ist Teil des CIBSS Führungsteam und designierte Sprecherin. Im Rahmen von CIBSS leitet sie das Forschungsprojekt “Phosphorylation dependent signaling in autophagy“ und ko-koordiniert den CIBSS Forschungsbereich C „Auf dem Weg zur entdeckungsgesteuerten Innovation“.

 

 



Gleichstellung ist kein Frauenthema – sie betrifft uns alle. Wirklicher Fortschritt entsteht, wenn wir gemeinsam an neuen Lösungen arbeiten

Claudine, du bist Molekularbiologin an der Universität Freiburg, Mitglied im Exzellenzcluster CIBSS und designierte Sprecherin für eine mögliche zweite Förderphase. Dein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Autophagie, dem „zellulären Abfallentsorgungssystem“.

Kannst du kurz umreißen, was genau du untersuchst und was für dich das Spannendste daran ist?

Autophagie ist die zelluläre Müllentsorgung. Lange Zeit fand dieser Prozess wenig Beachtung, bis Forscher*innen in den frühen 2000ern zeigten, dass die Modulation des Autophagievorgangs den Abbau aggregierter Proteine beeinflusst und mit neurodegenerativen Erkrankungen verknüpft ist. Kurz darauf wurde bewiesen, dass Mäuse ohne Autophagie-Gene neurodegenerative Symptome entwickeln – ein Beleg für die essenzielle Rolle dieses Prozesses für die neuronale Gesundheit. Heute weiß man, dass Autophagie nicht nur für die neuronale Gesundheit, sondern auch für Krebs, Infektionen und das Altern eine zentrale Rolle spielt. Jedoch noch vor 20 Jahren wusste man kaum etwas über die molekularen Mechanismen, die diesen Prozess steuern. Als Postdoc an der ETH Zürich begann ich, diese Grundlagen zu erforschen. Mich faszinierte besonders, dass das Forschungsfeld noch sehr jung war, und somit grundlegende Fragen noch nicht geklärt waren. Viele davon sind es bis heute noch nicht: Wir fragen uns weiterhin, wie wird Abfall als solcher erkannt? Wie entstehen die Autophagosomen – also jene doppelmembranigen Bläschen, die als Transportbehälter in der zellulären Recycling-Anlage dienen? Und wie gelangen diese schließlich zu den Lysosomen,wo ihr Inhalt abgebaut und verwertet wird? Solche Mechanismen zu verstehen, ist die Basis meiner Forschung – und bildet die Grundlage für die Entwicklung neuer Medikamente.

Wir führen dieses Interview anlässlich des Weltfrauentages am 08. März 2025. Mit Blick auf diesen Tag und die Themen, die er aufbringt, lass uns das Wissenschaftssystem als Organismus vorstellen und bei deinem Thema bleiben: Denkst du, dass dieser Organismus gut für seine Gesundheit sorgt, oder bräuchte es für Fortschritt und Wandel mehr „Autophagie?

Wie ein gesunder Organismus sollte auch das Wissenschaftssystem stetig in Bewegung bleiben, träge, veraltete Strukturen hinterfragen und innovative Ansätze fördern. In den letzten Jahren hat sich bereits viel getan – mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit, offene Wissenschaft, bessere Vernetzung und flexiblere Karrierewege zeigen, dass Wandel möglich ist.

Dennoch gibt es noch viel Potenzial für weitere „Autophagie“: Wenn wir uns von überholten Mechanismen, wie etwa dem immensen Publikationsdruck, starren Hierarchien, langen und teilweise unsicheren Karrierewegen verabschieden, können wir ein Wissenschaftssystem schaffen, das dynamischer, kreativer, innovativer und chancengerechter ist – nicht nur zum Vorteil von Frauen, sondern aller Forschenden. Um dies zu erreichen, stellt sich auch die Frage: Welche Aspekte der Chancengleichheit und Wissenschaftskultur bekommen überhaupt genügend Aufmerksamkeit – und welche werden in den Diskussionen oft übersehen?

Jedes Jahr führen wir anlässlich des Weltfrauentages Interviews – welche Diskussionen kommen deiner Meinung nach noch zu kurz, welche Fragen werden zu selten gestellt?

Wir übersehen oft, wie unterschiedlich die Bedürfnisse von Frauen sind. Bereits greifende Maßnahmen wie Frauenquoten können beispielsweise zwar helfen, bestimmte Hürden abzubauen, aber sie fördern oft nur eine bestimmte Gruppe von Frauen – nämlich jene, die in das vorherrschende Karrieremodell passen. Andere Frauen, die vielleicht andere Lebensrealitäten haben, profitieren davon weniger oder stehen sogar vor neuen Herausforderungen.
Manchmal erreichen wir mit gezielten Maßnahmen wichtige Gleichstellungsziele, übersehen aber, dass auch die neuen Strukturen reflektiert und weiterentwickelt werden müssen. So ist es in öffentlichen Einrichtungen und Universitäten beispielsweise verbreitet, dass in entscheidungsrelevanten Gremien stets Frauen vertreten sein müssen, und dass etwa in Berufungskomissionen eine Gleichstellungsbeauftragte beteiligt ist. Es ist gut und richtig, dass auf diese Weise sichergestellt wird, dass Frauen wie Männer gleichermaßen auf wichtige Entscheidungen Einfluss nehmen. In Bereichen, in denen jedoch noch immer weniger Frauen als Männer in Schlüsselpositionen mit Entscheidungskompetenz vertreten sind, bedeutet dies, dass diese mitunter eine erhebliche Mehrbelastung schultern müssen. Dies schafft folglich paradoxerweise einen neuen Nachteil, was zwei Aspekte aufwirft: Zum einen müssen wir Lösungen finden, um den zusätzlichen Arbeitsaufwand, der Frauen durch diese Maßnahmen entsteht, angemessen zu kompensieren. Außerdem stellt sich die Frage: Muss ein/e Gleichstellungsbeauftragte/r zwingend eine Frau sein? Wenn wir argumentieren, dass Gleichstellung allen zugutekommt und wir mit den Beauftragten bspw. in Gremienentscheidungen eine objektive, unabhängige Interessensvertretung und Perspektive erwarten, dann können und sollten meiner Meinung nach auch Männer aktiv zur Förderung der Gleichstellung beitragen und Gleichstellungsbeauftragte sein.

Ein weiteres Thema, das zu wenig diskutiert wird, ist die Normalisierung von Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und zwar nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. Flexible Arbeitszeiten und die Akzeptanz von Kinderbetreuung sollten für alle Geschlechter selbstverständlich sein. Auch Väter, die sich aktiv in die Kinderbetreuung einbringen, brauchen mehr Unterstützung und gesellschaftliche Anerkennung. Zudem wird oft angenommen, lange Mutterschaftsurlaube seien immer von Vorteil. Dies trifft allerdings nicht immer und auf alle gleichermaßen zu. Einerseits ermöglichen sie es Müttern, länger zuhause bleiben zu können, wenn sie dies wollen oder die familiären Umstände oder das institutionelle Betreuungsangebot dies nicht anders erlauben. Anders herum kann diese Annahme zu einer impliziten Erwartungshaltung führen: Wenn längere Auszeiten als „normal“ oder „ideal“ gelten, steigt der gesellschaftliche Druck auf Frauen, tatsächlich länger zuhause bleiben zu sollen. Auch dann, wenn sie dies gar nicht möchten oder wenn ein früherer Wiedereinstieg für sie persönlich sinnvoller oder finanziell notwendig ist. Eine solche einseitige Sichtweise kann dazu führen, dass Väter seltener und kürzer in Elternzeit gehen, weil weiterhin das Bild vorherrscht, die Hauptverantwortung für die frühkindliche Betreuung liege bei der Mutter. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht zwischen den Elternteilen – sowohl in der Kinderbetreuung als auch in der beruflichen Entwicklung. Eine echte Gleichberechtigung in diesem Bereich erfordert daher nicht nur mehr Flexibilität, sondern auch einen Wandel in gesellschaftlichen Erwartungen und Unternehmenskulturen.

Meine persönliche Erfahrung zeigt, wie unterschiedlich gesellschaftliche Normen diesbezüglich in verschiedenen Ländern sind. In der Schweiz, wo ich meine Kinder während meiner Postdoczeit bekam, war es völlig normal, nach 14 Wochen Mutterschaftsurlaub wieder zu arbeiten. Unsere familiäre Situation und das Betreuungsangebot haben das ermöglicht: Auch mein Mann reduzierte seine Arbeitszeit und wir teilten uns die Betreuung gemeinsam mit der Krippe und der Großmutter. Als ich dann meine Juniorgruppe in Wien startete, wurde es hingegen als ungewöhnlich empfunden, dass ich mein Kind früh in die Krippe gab. Es wurde kaum wahrgenommen, dass mein Mann die Kinder jeden Tag nach dem Mittagessen abholte und wir uns die Betreuung aufteilten, stattdessen stand ich unter sozialem Druck.

Solche strukturellen und gesellschaftlichen Erwartungen sollten stärker hinterfragt werden, damit echte Wahlfreiheit für alle besteht, unabhängig vom Geschlecht und von dem, wie jede Familie dies individuell gestalten möchte und kann.

Solche Unterschiede in gesellschaftlichen Erwartungen zeigen, dass Veränderungen möglich sind – aber sie passieren nicht von allein. Ein wichtiger Motor für Wandel sind auch Netzwerke, die Wissenschaftlerinnen unterstützen und sichtbar machen. Du bist selbst Gründungsmitglied von Women in Autophagy – wie trägt dieses Netzwerk dazu bei?

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wertvoll Vernetzung und Unterstützung in der Wissenschaft sind und ich habe mich daher gerne der Gründung von Women in Autophagy (WIA) angeschlossen. Während meiner Karriere haben Women Mentors eine entscheidende Rolle gespielt, sie haben mich inspiriert, unterstützt und mir gezeigt, dass eine erfolgreiche Laufbahn in der Wissenschaft möglich ist. Besonders in den herausfordernden Zeiten als Junior Gruppenleiterin haben sie mich motiviert, weiterzumachen. Heute bin ich selbst Mentorin in verschiedenen Programmen, die Frauen auf ihrem Karriereweg unterstützen.

Mit WIA möchten wir genau diese Art von Unterstützung im Bereich der Autophagie weitergeben, aber auch Vernetzung im Feld vereinfachen. Das Netzwerk wurde gegründet, um das Engagement der 2020 früh verstorbenen US-amerikanischen Mikrobiologin Beth Levine für Forschung und Mentoring fortzuführen und Frauen sowie andere unterrepräsentierte Gruppen in der Autophagieforschung durch eine Initiative zu stärken, die für alle offen ist. WIA ist eine Plattform für Austausch, gegenseitige Unterstützung, internationale Vernetzung und Sichtbarkeit, sie organisiert unter anderem wissenschaftliche Veranstaltungen und bietet Mentoring.

Solche Netzwerke sind essenziell, weil sie nicht nur individuelle Karrieren fördern, sondern auch strukturelle und kulturelle Veränderungen wie die oben angesprochenen anstoßen. Wissenschaft lebt vom Austausch, und je diverser dieser ist, desto innovativer und nachhaltiger kann Forschung sein. WIA setzt sich genau dafür ein: für eine stärkere und inklusivere Wissenschaftsgemeinschaft, in der alle ihr Potenzial entfalten können.

Das Netzwerk wird von Frauen organisiert, steht aber allen Forschenden im Bereich der Autophagie offen. Derzeit besteht es aus mehr als 70% Frauen, eine Besonderheit in der internationalen Forschungslandschaft, die Frauen eine führende Rolle gibt und ihre Sichtbarkeit stärkt.

Wenn wir heute an solchen Strukturen arbeiten, dann mit dem Ziel, dass sie irgendwann selbstverständlich werden. Wie würde Wissenschaft aussehen, wenn wir über Diversität nicht mehr sprechen müssten, weil sie sie selbstverständlich geworden ist?

In einer idealen Zukunft wäre Diversität in der Wissenschaft so selbstverständlich, dass sie keine besondere Erwähnung benötigt, sie wäre einfach gelebte Realität. Wissenschaft würde sich durch ein inklusives, flexibles und chancengleiches System auszeichnen, in dem Talent und Innovation im Vordergrund stehen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder persönlichen Lebensmodellen. Eine wirklich diverse Wissenschaftswelt bietet eine offene und dynamische Forschungsumgebung, in der unterschiedliche Perspektiven als Bereicherung gesehen werden und in der Menschen mit verschiedensten Hintergründen und Lebensrealitäten ihr volles Potenzial entfalten können. Das würde nicht nur die Chancengleichheit verbessern, sondern auch die Wissenschaft selbst innovativer und nachhaltiger machen.

Kreative Forschung, Begeisterung und Innovationskraft brauchen Freiräume und flexible Arbeitsmodelle. Besonders als meine Kinder noch klein waren, aber auch davor, hatte ich das Glück, immer eine große Freiheit in meiner Karriere genießen zu dürfen. Diese Flexibilität hat es mir erlaubt, meine wissenschaftliche Laufbahn und meine persönlichen und familiären Bedürfnisse zu vereinbaren. Dies hat entscheidend dazu beigetragen, dass ich in der akademischen Wissenschaft Fuß fassen konnte, immer davon begeistert war und es bis heute bin. Wir müssen alle daran mitwirken, dass genau solche Rahmenbedingungen zur Selbstverständlichkeit werden, denn sie kommen nicht nur Einzelnen zugute, sondern stärken die gesamte Wissenschaftsgemeinschaft.

 

CIBSS Profil von Prof. Dr. Claudine Kraft